Literaturnobelpreis 1981: Elias Canetti

Literaturnobelpreis 1981: Elias Canetti
Literaturnobelpreis 1981: Elias Canetti
 
Der Sohn spanisch-jüdischer Eltern erhielt den Nobelpreis für sein von Weitblick, Ideenreichtum und großer künstlerischer Kraft geprägtes schriftstellerisches Werk.
 
 
Elias Canetti, * Russe (Bulgarien) 25. 7. 1905, ✝ Zürich 14. 8. 1994; Kindheit in Bulgarien, dann Aufenthalte in Manchester, Wien und Zürich, Abitur in Frankfurt am Main, Studium der Chemie in Wien, 1929 Promotion, 1935 »Die Blendung«, 1938 Emigration nach London. Lebte nach dem Krieg in Zürich und London, 1960 »Masse und Macht«, 1977 »Die gerettete Zunge«, der erste Band einer Autobiografie, dem zwei weitere folgten: 1980 »Die Fackel im Ohr«, 1985 »Das Augenspiel«. Schrieb überdies Dramen, unter anderem 1931 »Hochzeit«, 1950 »Komödie der Eitelkeit«.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Mit den Sätzen »Der Nobelpreis war ihm sicher. Längst hätte man ihn dafür vorschlagen sollen; seiner Jugend wegen schien es besser, noch einige Jahre zu warten«, charakterisiert Elias Canetti den Psychiater Georg Kien, den Bruder seiner wohl bekanntesten Romanfigur, des bibliomanen Sinologen Peter Kien, der sich am Ende der »Blendung« samt seiner Bibliothek in einem Heer von Flammen das Leben nimmt. Als Canetti 1981 selbst mit dem Nobelpreis geehrt wurde, konnte dies als die beinahe logische Konsequenz eines wahren Preisregens angesehen werden, der seit den späten 1960er-Jahren auf ihn niederging. Er erhielt unter anderem 1968 den Großen Österreichischen Staatspreis, 1972 den Georg-Büchner-Preis und im Jahr der Stockholmer Ehrung den Franz-Kafka-Preis. Er selbst empfand den Nobelpreis als Auszeichnung, die ihm als Angehörigen der zu Ende gegangenen Epoche der klassischen deutschsprachigen Moderne zuteil wurde. Vier ihrer verstorbenen Vertreter hebt er ausdrücklich in seiner Dankesrede für den Nobelpreis hervor: Karl Kraus, Franz Kafka, Robert Musil und Hermann Broch. Und es heißt dann: »Wären sie noch am Leben, so stünde wohl einer von ihnen an meiner Stelle.« Seine späte Popularität verdankte Canetti vor allem den drei Bänden, in denen er seine Lebensgeschichte zwischen 1905 und 1937 schildert. Den Endpunkt seiner Autobiografie markiert der Tod der Mutter, die nicht nur deshalb als zentrale Bezugsfigur in Canettis erstem Lebensdrittel erscheint.
 
 Ein Lebensthema
 
Mit seiner Autobiografie verfügte Canetti über die Möglichkeit, seine beiden eigentlichen Hauptwerke organisch in seinen Lebenszusammenhang einzufügen. Sowohl die entscheidenden Ideen zu »Die Blendung« als auch die Grundideen zu »Masse und Macht« werden bestimmten Lebensaugenblicken zugeschrieben, insbesondere Canettis Frankfurter Zeit und einem Aufenthalt in Berlin am Ende der 1920er-Jahre. Das Schicksal des Sinologen Peter Kien kann als literarische Umsetzung von Canettis Lebensthema angesehen werden: dem Phänomen der Masse. Kiens Feuertod am Ende der »Blendung« ist für Canetti ein Symbol für das Aufgehen des Einzelnen in der Masse, der sich niemand entziehen könne, selbst wenn er sich mit noch so vielen Büchern vor ihr wappnet.
 
 »Masse und Macht«
 
Während Canetti »Die Blendung« innerhalb sehr kurzer Zeit niedergeschrieben hatte, beschäftigte ihn sein 1960 erschienenes theoretisches Hauptwerk »Masse und Macht« über mehrere Jahrzehnte. In ihm ergründet Canetti die Natur und den Zusammenhang von Massen- und Machtphänomenen. Neben die Zeitdiagnose tritt hierbei die Interpretation von ethnologischem Material. Weder schreckt Canetti vor zeitenthobenen Wesensbestimmungen des Menschen zurück, noch verliert er die konkreten Bedingungen menschlichen Zusammenlebens aus dem Blick. Oftmals beginnt seine Denkbewegung beim von den meisten Menschen für selbstverständlich Gehaltenen, um es dann zu umkreisen, zu sezieren, es von verschiedenen Seiten zu erörtern. Nicht selten wird es dabei in einen neuen Zusammenhang gestellt. Eines der zentralen Kapitel der Machtanalyse, das dem Befehl gewidmet ist, leitet Canetti mit der Diagnose ein, dass die Natur des Befehls bisher im Dunkeln geblieben sei: »Befehl ist Befehl: der Charakter des Endgültigen und Indiskutablen, der dem Befehl anhaftet, mag auch bewirkt haben, dass man über ihn so wenig nachgedacht hat.« Die Allgegenwart des Befehls im gewöhnlichen Leben habe, so Canetti, bewirkt, dass es unterlassen wurde, danach zu fragen, »was denn ein Befehl eigentlich ist, ob er wirklich so einfach ist, wie er erscheint, ob er der Raschheit und Glätte zum Trotz, mit der er das Erwartete bewirkt, nicht andere, tiefere, vielleicht sogar feindliche Spuren im Menschen zurücklässt, der ihm gehorcht.« Die scheinbare Natürlichkeit des Befehls wird entlarvt als Ergebnis einer Unterlassung: Nur weil über ihn nicht nachgedacht wurde, konnte er seine Macht entfalten. Insofern verbindet Canetti die Analyse mit einem Plädoyer: »Von welcher Seite immer man ihn betrachtet, der Befehl in seiner kompakten, fertigen Form,. .. ist das gefährlichste Element im Zusammenleben von Menschen geworden. Man muss den Mut haben. .. seine Herrschaft zu erschüttern.« Titel und Inhalt des Buchs lassen vor allem seine Bezugnahme auf den Nazismus erwarten. Und in der Tat finden sich neben direkten Bezugnahmen einige Passagen, die als Kommentare zu Massenaufmärschen von Nazi-Anhängern oder zur nachträglichen Berufung von Massenmördern auf die Institution des »Befehlsnotstands« gelesen werden können. Deswegen können Canettis Überlegungen eingereiht werden in die notwendigen Versuche, den deutschen Nazismus begrifflich zu erfassen. Eine derartige Lektüre wäre allerdings einseitig. Nicht nur holt Canetti thematisch viel weiter aus und veranschaulicht seine Thesen zumeist an Beispielen aus sehr viel weiter zurückliegenden Phasen der Geschichte. Wie bereits bei »Die Blendung« ist auch bei »Masse und Macht« die Zwischenkriegszeit der maßgebliche Entstehungskontext. Deshalb darf eine Nähe zu den Gesellschaftsanalysen der entstehenden Soziologie und zur philosophischen Anthropologie des ersten Jahrhundertdrittels nicht überraschen. Bereits der Beginn der Eingangspassage von »Masse und Macht« kann dies veranschaulichen: »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes. Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können. Überall weicht der Mensch der Berührung durch Fremdes aus.« Dieser Einstieg setzt an bei den diffusen Ängsten des modernen Großstadtmenschen, der den Überblick verloren und sich den Angriffen des Unbekannten ausgeliefert wähnt. Nicht zufällig spielt der Begriff der Distanz bei zahlreichen Autoren dieser Zeit eine so zentrale Rolle. Die Möglichkeit der allzu schnellen Überwindung von Distanzen etwa durch die Zugreise, aber auch die scheinbare Konturlosigkeit der anderen Passanten im Großstadtgetümmel lösen in den Menschen einerseits ein Bedürfnis nach Distanznahme aus, andererseits kann sich aber auch der genau entgegengesetzte Wunsch nach Vereinigung mit dem Fremden in der Masse einstellen. Indem Canetti die Ängste seiner Mitmenschen ernst nimmt und die Bildung von Massen nicht verteufelt, sondern zu erklären versucht, ist sein Denken humanistisch und weit entfernt von elitären Erregungen über die allmähliche Vermassung und Verflachung der Gesellschaft.
 
C. Möllmann

Universal-Lexikon. 2012.

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